Selbstverpflichtung zu einer feministisch künstlerischen Praxis
Forum von Künstlerinnen, Kunsthistorikerinnen, Kuratorinnen, Galeristinnen und Kunstvermittlerinnen
Wir schlagen vor
Verschiedene Formen sexueller Belästigung wurden in den letzten Jahren auch im Zusammenhang mit Machtverhältnissen in der Kunstwelt sichtbar gemacht und vermehrt thematisiert. Wir – Künstlerinnen, Kuratorinnen, Forscherinnen, Schriftstellerinnen, Galeristinnen, in und mit der Kunstwelt Beschäftigte – haben gemeinsam ein Bekenntnis zu feministischer Praxis entwickelt. Dieses Dokumentdient der Sensibilisierung für patriarchale Mechanismen, die die Machtausübung in der Kunstwelt determinieren, und wir hoffen, dass sich viele diesem Bekenntnis anschließen. Der offene Brief „Wir sind nicht überrascht“ fordert „Institutionen, Vorstände und Kolleg*innen auf, erstens [MOU1] darüber nachzudenken, ob und wie sie bei der Fortschreibung von sexueller Ungleichstellung und Missbrauch eine Rolle gespielt haben und zweitens, wie sie planen, diese Probleme in Zukunft zu bewältigen. Wir möchten das Bewusstsein für patriarchale und chauvinistische Verhaltensweisen schärfen, die in der Kunstwelt noch immer dominant sind und unsere Position als Künstlerinnen maßgeblich verschlechtern. Diese Verpflichtungserklärung entstand in erster Linie im Hinblick auf die historische Exklusion und Abwertung von Frauen in der Kunst, kann aber von anderen weiblichen, männlichen oder nicht-normativen Identitäten adaptiert werden. Wir bieten damit einen Wegweiser erwünschter Praktiken für das persönliche und institutionelle Verhalten an.
In Bezug auf die Struktur der Kunstwelt
1. Wir verlangen eine egalitäre Präsenz in der Kunstwelt (strategisch 50% anstelle von derzeit 20%). Dies soll in Sammlungen von Museen und anderen kulturellen Einrichtungen sowie in Privatsammlungen, in Gruppenausstellungen, bei Preisverleihungen (Parität bei Auswahl, Verleihung und Jury), bei Kunstmessen, internationalen Veranstaltungen wie Biennalen, bei Reproduktionen in Büchern und Gruppenkatalogen, auf Titelseiten von Zeitschriften und beim prozentualen Anteil in Kunstgalerien gefordert, beansprucht und respektiert werden. Dabei sollen alle Kunstformen eingeschlossen werden (auch Konzertrepertoires, darstellende Künste sowie Literatur). Wir wollen die ungleiche Verteilung von Finanzressourcen und Einkommen (zwischen den Geschlechtern, zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen sozialen Gruppen) sichtbar machen und überwinden.
2. Wir engagieren uns für eine Geschlechtergerechtigkeit in Kunst und Bildungsinstitutionen, sowie in Einrichtungen, die über Kulturpolitik entscheiden. In Argentinien gibt es nur wenige Museumsdirektorinnen, die Schlüssel- und Leitungspositionen von Kunstinstitutionen sind überwiegend von Männern besetzt. Frauen sind in der Regel in den mittleren Rängen vertreten: Im museumspädagogischen Bereich, bei „weiblich konnotierten“ oder mit Kulturerbe verbundenen Tätigkeiten (Restaurierung, Katalogisierung und Konservierung) oder allenfalls in der Direktion von Museen angewandter Kunst, Kostümmuseen und solcher Museen, die verglichen mit den großen Kunstzentren weniger bedeutend und öffentlichkeitswirksam sind. Auf Podien und an runden Tischen haben hauptsächlich Männer das Sagen; und auch in der Kunstwelt ist „Ruhm“ männlich. Im Bereich von Organisationen (nicht nur bei kommerziellen, sondern auch bei selbstverwalteten Projekten mit vermeintlich horizontalen Strukturen) sollten wir vermeiden, als „Sekretärinnen“, „Verwalterinnen“, „Öffentlichkeitsarbeiterinnen“ eingesetzt zu werden, während Männer die kreativen und Führungspositionen beanspruchen. Wir sollten mit denjenigen arbeiten, die das Gefühl haben, dass jede*r etwas tun und lernen kann.
3. Wir sollten uns darüber bewusst sein, dass patriarchales Verhalten nicht unbedingt nur von heterosexuellen Männern praktiziert wird: Wir Frauen können extrem patriarchal sein, wenn wir autoritär und missachtend auftreten. Dasselbe gilt für den Machismo in der homosexuellen Kultur: Wir sollten mit „Tunten“ und „Queers“ an einem Strang ziehen, um schwuler Frauenfeindlichkeit ein Ende zu setzen. Lasst uns umgekehrt die Praktiken männlicher Kollegen hervorheben, wenn diese feministischen Prinzipien entsprechen.
4. Wir wollen die Position von Frauen und anderen feminisierten Körpern in Bezug auf Rasse, Klasse, Alter, Geographie, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und anderer Differenzierungsfaktoren analysieren; wir werden aktiv versuchen, in der Kunstwelt vorherrschende diskriminierende Statistiken (weiß, Mitglied der Mittel- oder Oberschicht, jung, mit guten Kontakten im etablierten Kunstuniversum) zu identifizieren und zu unterwandern. Wir werden Sichtbarkeit von andersartigen Schöpfungen, von Künstlerinnen anderer sozialer Gruppen und anderer Kulturen fördern. Der Exklusion von Künstlerinnen der mittleren Generationen und das Phänomen einer späten Anerkennung am Ende ihrer Laufbahn (Altersdiskriminierung, von der Presse als „Stunde der Großmütter“ bezeichnet), wollen wir bewusst entgegenwirken.
Zum Verhalten in der Kunstwelt
5. Uns „schlechten Charakter“ zuzuschreiben, ist eine Falle: die Institutionen und Personen in Machtpositionen werden immer versuchen, unsere Forderungen, und unsere Abgrenzungen als unangebracht zu bezeichnen, oder uns schlicht als „verrückt“, „hysterisch“ oder „problematisch“ abzustempeln.
6. Jedes Mal, wenn wir im Begriff sind, öffentlich oder privat eine andere Frau zu kritisieren, sollten wir analysieren, ob wir nicht ein von klein auf erlerntes Schema wiederholen. Misogynie ist im kollektiven Unbewussten installiert und wir sollten uns immer die Frage stellen: Würde ich einen Mann für dieselbe Handlung genauso verurteilen?
7. Wir wollen, statt uns für die Karrieren männlicher Kollegen aufzuopfern, unsere Kolleginnen fördern. Mit den Männern der Kunstwelt möchten wir respektvolle Arbeitsbeziehungen, frei von Mikromachismen.
8. Wann immer wir einer anderen Frau helfen können, mehr Selbstvertrauen zu entwickeln, sollten wir diese Chance nutzen. Wenn eine andere Frau uns unterstützt und ermutigt, sollten wir dies annehmen und ihr danken.
9. Wir werden uns nicht länger gönnerhaft oder paternalistisch behandeln lassen. Wir laden unsere männlichen Kollegen ein, ihre Ausdrucksweise kritisch zu hinterfragen und zu prüfen, ob sie unsere Argumente nur für irrelevant erklären, um ihre eigenen durchzusetzen. Wir möchten von unseren männlichen Kollegen nicht belehrt oder verbessert werden (mansplaining), – vor allem, wenn dies nur geschieht, weilangenommen wird, dass wir in jeglichem Sachgebiet weniger Wissen oder Knowhow haben.
10. Lassen wir uns nicht von der Lautstärke und Tiefe der Stimme oder von der körperlichen Größe unserer männlichen Gesprächspartner einschüchtern. Diese Eigenschaften sind kein Beweis von Vernunft oder Wissen.
11. Wir sollten uns für nichts schämen und nicht zulassen, dass jemand uns wegen unserer Interessen bzw. unseres Engagements lächerlich macht: die Scham ist eine der patriarchalen Strategien, um uns verstummen zu lassen.
12. Lasst uns frontal und bei jeder Gelegenheit klarstellen, dass wir den Missbrauch von Macht ablehnen und unsere Missbilligung, unabhängig von Situation oder Person, zum Ausdruck bringen.
13. Wir wollen einander zuhören und Erfahrungen austauschen, denn das Persönliche ist immer politisch. Lasst uns die Freundschaft zwischen Frauen fördern: gegen Chauvinismus und Machokultur hilft nur die Solidarität zwischen Frauen (Sororität / Schwesternschaft).
Zu künstlerischer Karriere und Kreativität
14, Lasst uns so viele Arbeiten schaffen wie möglich und keine Angst vor Ehrgeiz haben. Unsere intensive Produktion trägt zur Gleichstellung der Geschlechter bei.
15. Wir sollten aufmerksam sein gegenüber der Plünderung unserer Ideen und künstlerischen Praktiken – vor allem, wenn unsere Urheberschaft unsichtbar ist, während sie in Institutionen an Ruhm gewinnen und männlichen Künstlern zugeschrieben werden. Machen wir öffentlich, wenn dies mit der Arbeit einer unserer Kolleginnen geschieht. Wir sollten darauf hinweisen, dass Attribute, die der Kunst von Frauen zugeschrieben werden, nur geschätzt werden, wenn männliche Künstler sie verwenden, aber disqualifiziert werden – als Kleinkunst, Kitsch, amateurhaft, kindlich betrachtet bzw. lächerlich gemacht –, wenn die Urheberin eine Frau ist.
16. Wir sollten das Konzept der Kunstkarriere hinterfragen, das sich ausschließlich an der Realisierung der Arbeit für kommerzielle Zwecke orientiert. Die Kontinuität unserer Arbeit wird häufig durch Mutterschaft und die uns auferlegte Pflegearbeit im familiären Kreis eingeschränkt. Die Unterbrechung der und Rückkehr zur künstlerischen Arbeit hat einen spezifischen und relevanten Wert, den wir betonen sollten. Wir setzen uns für die Sozialisierung der häuslichen und pflegerischen Aufgaben ein (einschließlich Zuhören, Vertrauen und emotionalem Beistand) und wollen in Frage stellen, mit welcher Selbstverständlichkeit wir sie annehmen oder mit ihr beauftragt werden.
17. Lasst uns den Geniekult beenden und den Kanon „guter Kunst“ abschaffen; beide werden nach patriarchalen Parametern reguliert.
18. Lasst uns mit dem Mythos vom „Expertenblick“ aufräumen; einem Blick, der mit beinahe göttlicher Legitimation erkennt, was künstlerische Qualität ist.
Über den Kunstfeminismus und die Geschichte der feministischen Kunst
19. Die Identifikation als „feministische Künstlerin“ oder „feministische Kunsthistorikerin“ wollen wir nicht verleugnen, wenn in unseren Praktiken Kunst, Politik und feministischer Aktivismus zusammenkommen. Lasst uns stolz darauf sein, unsere Werke als feministisch zu bezeichnen und ebenso stolz sein, wenn sie von anderen so etikettiert wird, wenn wir durch unser Werk das hetero-patriarchalische System in Frage stellen.
20. Lasst uns stereotype, von patriarchalen Diskursen konstruierte Bilder des „Frauseins“ überprüfen und stattdessen eigene Kategorien entwickeln.
21. Lasst uns das Werk von Künstlerinnen, Wissenschaftlerinnen und Theoretikerinnen erforschen und uns mit ihrem Erbe verbinden; lasst uns analysieren, welche Macht patriarchalische Genealogien ausüben und das Wissen von Frauen wertschätzen.
22. Wir sollten unser eigenes Zitier-System und unsere Autoritätsprinzipien untersuchen, um kritisch die Internalisierung des patriarchalischen Denkens in unseren eigenen Praktiken zu analysieren.
23. Lasst uns die patriarchal geprägte Sprache analysieren, die mit Termini wie Genie, Manifest oder Meister die vorherrschende Kunstgeschichte beherrscht. Lasst uns einen anderen Blick, andere Narrative, andere Geschichten (nicht eine offizielle Geschichte) der Kunst hervorbringen.
24. Lasst uns im Bildungsbereich die – paritätische – Aufnahme weiblicher Autoren in Bibliographien fordern (sowohl in Geschichte und Theorie). In akademischen Programmen sind diese in der Regel bisher kaum vertreten.
25. In Gesprächen mit KuratorInnen, SammlerInnen, GaleristInnen und anderen AgentInnen der Kunst sollten wir unsere Kolleginnen erwähnen und über ihre Werke sprechen. Lasst uns Konferenzen besuchen, Interviews lesen, ihre Arbeit mit Interesse erforschen: So stellen wir herrschende patriarchalische Genealogien wirksam in Frage.
26. Bezeichnen wir Künstlerinnen niemals als Partnerinnen männlicher Künstler, indem wir sie mit männlichen Genealogien verknüpfen. Vermeiden wir, bei Künstlerpaaren die Frau nur mit Vornamen und den Mann mit Vor- und Nachnamen zu nennen (z. B. Frida und Diego Rivera). Die Kunstgeschichte basiert auf der Marginalisierung von Frauen in Künstlerpaaren oder in der Beziehung zwischen Lehrer und Studentin. Lasst uns ihre Identität, ihren Werdegang und ihren Platz auf der Landkarte künstlerischen Schaffens erforschen und hervorheben.
27. Wenn Werke von Künstlerinnen mit der Begründung disqualifiziert werden, sie seien nur dank „sexueller Freundschaftsdienste“ anerkannt, soll dies als Diffamierung aufgedeckt werden.
28. Lasst uns an Frauentreffen und -konferenzen teilnehmen und Diskussionen über Kunst und Feminismus anregen; Erheben wir unsere Stimme und vergleichen dann, was in Bezug auf andere Bereiche der Kreativität und des Wissens geschieht.
29. Analysieren und lernen wir vom historisch kollektiven, partizipativen und solidarischen Charakter des Feminismus und seiner Beziehung zu anderen unterworfenen, disqualifizierten oder unterdrückten kulturellen Ausdrucksformen.
30. Lasst uns aktiv werden, damit der gegenwärtige Trend, Künstlerinnen zu würdigen, die zu Lebzeiten nicht anerkannt wurden und/oder nach ihrem Tod ins Vergessen rutschten, mehr als nur eine momentane und vorübergehende Mode ist.
31. Lasst uns kreative Räume, Wissen und Verbreitung von gemeinschaftlicher, partizipativer und kollaborativer Kunst fördern, die über den traditionell elitären Bereich der Kunst hinausgehen.
32. Lasst uns Wahrnehmungsformen fördern, die auf integrativem Denken, Zuneigung und Gleichberechtigung beruhen, als Gegengewicht zur in der patriarchal geprägten Gesellschaft vorherrschenden Praxis der Ausgrenzung und des Individualismus.
33. Wir sollten die systemische und systematische Zensur unserer Sensibilität, Poetik und unseres spezifischen Wissens durch die Exklusion unserer Arbeit öffentlich machen; denn diese Zensur bleibt bisher für die RezipientInnen unsichtbar, so dass sich ihre Wahrnehmung auf das männlich geprägte „in der Welt sein“ reduziert.
Über den integrativen Charakter dieses Vorschlags
34. Lasst uns fördern, dass sich männliche Kunstschaffende und die Kunstwelt allgemein alternativen (und nicht weniger wertvollen) Formen der Wahrnehmung öffnen können.
35. Wir müssen uns bewusst sein und auch unseren männlichen Kollegen verständlich machen, dass nicht nur Frauen, sondern jede*r, unabhängig von seinem/ihrem Geschlecht, diese Selbstverpflichtung verbreiten und [MOU2] [MOU3] unterzeichnen kann. Die Grundsätze von Fairness und Respekt sollten von allen praktiziert und respektiert werden und für alle Gültigkeit haben.
36. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass feministisches Engagement aus der Erfahrung von Diskriminierung und Unterdrückung entstand: der Diskriminierung von Frauen und anderen sozial benachteiligten Subjekten, der Herabwürdigung aufgrund von Klasse, Rasse, Identität, Geschlecht oder sexueller Orientierung.Der Feminismus ist ein emanzipatorisches Moment für alle.
37. Wir werden uns nicht zu Komplizinnen machistischer/sexistischer Gewalt oder Diskriminierung machen lassen: weder in offensichtlichen Fällen noch bei subtileren und wenig wahrnehmbaren Formen. Lasst uns nach wirksamen Lösungen, nicht nach Strafmaßnahmen suchen: wir können uns und unsere Räume schützen. Lasst uns füreinander da sein.
Dieser Vorschlag wurde durch den unerwarteten und frühen Tod (2017) der argentinischen Künstlerin Graciela Sacco motiviert, die sich beharrlich mit vielen der hier beschriebenen Verhaltensweisen auseinandersetzte.
Am 7. November 2017 gründeten wir in Buenos Aires „Nosotras Proponemos“ (Wir schlagen vor), ein Forum von Kunstarbeiterinnen, um die feministische Praxis in der Kunstwelt zu fördern.
Übersetzung: Maria Zerdo-Vetterlein, Ana María Jurisch und Julie August Korrektur: Rachel Kohn